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Marokko

Nie zuvor waren wir erleichterter gewesen, wieder daheim zu sein. Als wir mit unserem zerkratzten und verbeulten Wagen spanisches Festland erfuhren und Nordafrika knapp 30 Kilometer hinter uns lag, konnten wir uns ein tiefes Durchatmen nicht verkneifen. Zwei Monate nervenzehrender Stress und körperliche Strapazen lagen hinter uns – und am Ende wog die psychische Belastung weitaus schwerer.

Wie heißt es? Es kommt immer anders, als man denkt. Wir planten eine reine Bergtour, autonom, fernab aller menschlichen Kontakte und besonders aller modernen, westlich geprägten Orte. Wir wollten ein Gebirge in seiner Gänze überqueren. Eine hundertprozentige, saubere Leistung. Für dieses Vorhaben suchten wir einen Gebirgszug, der im mittleren Schwierigkeitsgrad lag. Gipfel bis 4000 Meter Höhe, nicht schmerzlich kalt, aber möglichst ohne zuviel Bevölkerung.

Unsere Wahl viel auf das Atlasgebirge Marokkos, in dessen Zentralmassiv der Toubkal als höchster Gipfel Nordafrikas aufragt. Der Plan sah die Stadt Taza als Startort und den Atlantischen Ozean als Ziel vor. 750 Kilometer Gebirge, in einer einzigen Höhentour, als Selbstversorger, ohne Kontakt zu Menschen.

 

Mit diesem Vorhaben starteten wir am 24.03.2012 von Hamburg aus in unserem fabrikneuen Nissan Qashqai. Das gute Stück wollten wir auf einem bewachten Parkplatz sicher stehenlassen. Es kam alles gänzlich anders.

Cathrin absolvierte einen beachtlichen Fahrmarathon und legte an drei Tagen 3500 Kilometer zurück. Um zwei Uhr Nachts erreichten wir den spanischen Hafen Algeciras, um nach mageren zwei Stunden Schlaf die Fähre nach Tanger Med zu bekommen. Nach etwas sexistisch-unfreundlicher Bürokratie am marokkanischen Hafen fuhren wir in das Rifgebirge, dessen Ausläufer nördlich von Taza abebben. Von den europäischen Mautgebühren geprägt, mieden wir die Autobahn und fuhren auf eine schmale Bergstraße ab. Das hätten wir uns sparen können, denn die Mautgebühren sind im europäischen Vergleich mehr als günstig (besonders Frankreich stellt sich durch solch moderne Wegelagerei selbst ins Abseits und erreicht einzig, künftig gemieden zu werden).
Das Rifgebirge begrüßte einen mit weichen, saftig grünen Hügeln und Gipfeln, auf denen knorrige Korkeichen nordamerikanisches Flair vermittelten. Wir befanden uns am Ende der Regenzeit und so derart gesättigt tat sich eine hinreißend helle, saftige Landschaft vor uns auf, die nur hier und da von kleinen Höfen und Dörfern durchbrochen wurde. Es war schöner als wir uns erhofft hatten. Flamingos standen auf einer tiefen, bis zum Horizont reichenden Ebene, Dromedare zogen in der Ferne, Störche verzichteten vorerst auf die Heimkehr und kreisten zu Aberdutzenden. Eine wilde Schildkröte wurde durch uns erspäht. Bei so viel Schönem ließen wir uns etwas Zeit bei der Fahrt nach Taza. Aber schon am ersten Tag gab es einen negativen Vorgeschmack – niemals hätten wir gedacht, das sich so, einige Wochen später, einmal unser marokkanischer Alltag gestalten würde:
Wir hielten kurz vor einem hübschen Panorama, um unsere Ausrüstung anzulegen und durchzuchecken. Als wir bereits von mehreren zwielichtig wirkenden Männern beobachtet wurden. Ein älterer Hirte auf seinem Esel ritt vorbei und warnte uns vor deren diebischen Machenschaften. So behielten wir die 3 Männer stets im Auge und fuhren bald weiter – aber nicht ohne einen Steinwurf an der Karosserie zu vernehmen. Falk griff sich sein Messer und stürmte heraus – auch dies sollte später Alltag werden. 
Doch erst als er vor dem Werfer stand bemerkte Falk, daß es ein geistig behinderter Mensch war. Besonders in ländlichen Regionen waren solche Begegnungen auch später nicht ungewöhnlich. So ließ Falk erzürnt ab und wir fuhren nach Taza.
L` Adjutant Ibdal Loukyi war freundlich, lud uns auf einen Kaffee ein, erklärte uns charmant aber mehr als deutlich, daß die Parkplätze ausschließlich für Regierungsangestellte seien und verwies nach zweistündigem Klönschnack auf Fès, die 100 Kilometer entfernte Metropole. Am dortigen Flughafengäbe es einen rund um die Uhr bewachten Parkplatz. So machten wir uns dorthin auf und verließen unseren Wagen. Flüge nach Taza gab es keine, so entschieden wir uns für ein Taxi und gegen die gar nicht so viel billigere aber viel beschwerlichere Bahn. Die Taxifahrer strömten in Scharen auf uns zu, als wir Interesse zeigten, und wir hatten Mühe uns durchzusetzen, den von uns gewählten Fahrer zu bekommen. Nach etwas Verhandeln einigten wir uns auf 450 Dirham, was circa 40 Euro entspricht – und das für eine Strecke von über 100 Kilometern und knapp zwei Stunden – inklusive der Mautgebühren. Wir ließen uns am Hotel La Tour Eiffel, immerhin waren wir in Marokko, am Stadtrand absetzen, handelten erneut und verbrachten so unsere letzte Nacht in einem Haus, in einer Stadt, in der Zivilisation.
Am 29.03.2012 verließen wir, eine neugierige Schar Kinder hintendrein, Taza und bestiegen die Ausläufer des Mittleren Atlas vor den Toren der Stadt. Das Wetter war von Nieselregen geprägt und recht kühl. Wir wanderten durch die grünen Hügel des Tazzeka-Nationalparks machten eine gute Wegstrecke. Noch trafen wir auf fast jedem Hang Menschen, zumeist Hirten. Es sah aus wie Wildnis, war es auch irgendwie, nur niemals gänzlich einsam. „Wenn wir erst tiefer im Gebirge sind“, sagten wir uns, „werden wir schon noch reine Wildnis finden“. Wir wollten fast zwei Monate jedes Haus nur aus der Entfernung sehen, wollten in der Natur für uns sein, reduziert auf die bescheidene Habe im Rucksack. Man errechnet jedes Gramm, will nur nicht zu viel mithaben, denn es wiegt alles schwer, und je später der Tag, je steiler der Hang, desto schwerer die Habe.

Um die 25 Kilogramm wogen unsere Rucksäcke anfangs. Darin war unsere gesamte Nahrung und Wasser für mehrere Tage. Wenn die Nahrung aufgebraucht, bliebe uns nur Hungern, und eventuell das, was die Natur uns böte. Für die Wasseraufbereitung hatten wir Micropurtabletten für 300 Liter dabei. Von Anfang an hieß es also, die Nahrung streng zu rationieren. Wir hungerten vom ersten Tag an, marterten uns zum Frühstück mit wenigen Löffeln Müsli und einer, meist kalten, Brühe zum Abendbrot. Hinzu und zwischendurchgab es wenige Weizenkekse, die, über dem Feuer erwärmt, ein wahrer Hochgenuss waren. Als Notration hatten wir einige Packungen Trockenessen und Pemmikan, sowie eine Handvoll Nüsse und Energieriegel. Wir machten uns einen Spaß daraus, festzustellen, wie lange wir bräuchten, unsere gesamten Nahrungsvorräte zu vertilgen, legten wir es darauf an: ein einziges Wochenende! Nun musste alles zwei Monate reichen.
Die ersten zwei Wochen unserer Wanderung waren die reinste Schinderei. Vom ersten Tag an regnete es. Laut Vorrecherche waren wir am Ende der Regenzeit und die Bauern und Hirten bestätigten uns, daß ungewöhnlich schlechtes Wetter herrschte. Wir würden das Ende der Regenzeit also in den Bergen erleben – wir sehnten uns diesen Zeitpunkt herbei. Für solch Wetter waren wir auch gar nicht ausgerüstet. Dünne Regenponchos für den Notfall waren einem zehnstündigen Dauerregen nicht gewachsen – im Gegenteil, durchs Schwitzen und Kondenswasser war man darunter ebenso naß, wie darüber – nur hielten sie wenigstens den auskühlenden Wind ab.
Täglich liefen wir mit feuchter Kleidung, alles klebte schwer am Leib – die Schuhe, daheim noch gut eingewachst, waren durchnässt und nicht trocken zu bekommen. Zum Trocknen der Wäsche spannten wir im Zelt eine Reepschnur als Wäscheleine, die aber nie annähernd genügend Platz bot. Wenigstens waren die Socken am nächsten Morgen nur noch feucht und nicht mehr nass. Ein Lob an die hohe Qualität unserer Kleidung: Merinowolle wärmt auch im feuchten Zustand.
Nach einigen Tagen erreichten wir eine Schotterpiste, die sich auf circa 1500 Höhenmetern entlang der Bergfüße wand, das Wetter war seit wenigen Stunden sonnig und sofort erhellte sich die Laune des Teams. Wir beschlossen zu campieren und den Berg über unserem Lager, wohl ein 2000er, tags darauf zu besteigen. Unser Trinkwasser war am Ende. Es kann den ganzen Tag regnen und doch lässt sich nicht genügend auffangen um davon den Durst zu stillen. Wir spannten unsere Rucksackhüllen an Felsen auf und ließen sie in eine Faltschüssel münden. Doch das Resultat nach einer Regennacht war ein müder Liter, in welchem bereits ein ganzes Biotop die Evolution vorantrieb. Wir benötigten unbedingt eine richtige Quelle.
Diese fanden wir bei unserer Besteigung am nächsten Tage und beschlossen, später dahin zurückzukehren. Der Aufstieg war feucht. Die Berge im mittleren Atlas sind reichlich bewachsen: blattreiche, dornige Büsche, knorrige Bäume, Felsen und aufgrund des Regens soviel Matsch, daß man kaum vorankam. Wir benötigten weitaus länger, als geplant. Auf dem Gipfel angekommen waren wir durchnässter denn je, da das Blattwerk die Feuchtigkeit richtiggehend in die Kleidung massierte. Uns wurde kühl und es war bereits später Nachmittag. Wir erspähten eine scheinbar günstige Abstiegsmöglichkeit und begingen damit einen Fehler. Nach einer Stunde harter Arbeit standen wir vor einem Abgrund, ohne jegliche Möglichkeit, weiterzukommen, und nun drohte die Dämmerung. Wir hatten kaum Wasser und keine Nahrung mehr – wir hatten uns je einen Riegel auf dem Gipfel gegönnt und auch nicht mehr dabeigehabt, weil wir gar nicht erst von einer Besteigung von über vier Stunden ausgegangen waren. Es regnete und wurde bitter kalt. Die Nacht ohne Ausrüstung – wir ließen sie am Fuße des Berges versteckt zurück, um freier klettern zu können – drohte, wir würden sie völlig durchnäßt und bei wenigen Graden über Null auf einem uns nicht vertrauten Berg, in völliger Dunkelheit und wahrscheinlich ohne Feuer, verbringen müssen. Die nasse Kleidung böte nur unzureichenden Schutz und so stünde uns eine Nacht in ständiger Bewegung bevor, um nicht zu erfrieren. Von den Wildschweinen dort oben ganz zu schweigen. Ohne Rücksicht auf Verluste stürmten wir also durch das nasse, dornige Gebüsch und sprangen über Felsen, einzig das Ziel vor Augen, vor Einbruch der Dunkelheit unsere Ausrüstung wieder zu erreichen. Wir nahmen Schürfwunden und noch mehr der widerlichen Nässe in Kauf, denn die Alternative war bedrohlich und so endete nach einigen Stunden des Abstiegskampfes dieses Abenteuer glimpflich: wir erreichten unsere Ausrüstung in der Dunkelheit und mit Stirnlampen, ohne die wir das Zelt nie verlassen. Das Zelt errichteten wir am ganzen Leibe zitternd und die wärmenden Schlafsäcke herbeisehnend, aber wir waren unverletzt und erleichtert. Tags darauf kehrten wir zur entdeckten Quelle am Hang zurück, holten frisches Wasser und wetterten ab. Durch die Gipfelbesteigung besaßen wir nun kein trockenes Kleidungsstück mehr…wir spannten unser Seil zwischen den Bäumen und hofften auf wenigstens ein paar trockene Stunden – leider vergeblich.
Dies war der Beginn eines Abenteuers, wie wir es nicht erwartet hatten. In den ersten Wochen war es ein Bärenkampf über unzählige Schluchten und Täler gewesen, allesamt matschig und dicht bewachsen, die wir mit unseren schweren Rucksäcken teils lebensgefährlich überwanden, umliefen oder durchquerten. Der Hunger ließ uns nächtlich von Essen träumen, wir fertigten gar eine Liste mit Leckereien an, die wir uns daheim gönnen wollten.

Südlich der Region Bou Iblane wurde unsere Wanderung gestoppt. Ein Blizzard stürmte durch die Berge. Tags zuvor hatten wir noch 20 Grad gehabt und endlich gutes Wetter, als über Nacht Dauerregen einsetze und uns zwang, abzuwettern. Die Luft wurde immer kälter und am Abend ging der Sturm los und wandelte den Regen erst in Eisregen, dann in Hagel, später in Schnee. Unser Expeditionszelt wurde so platt gedrückt, daß es uns ins Gesicht schlug – während wir auf dem Rücken lagen. So etwas hatten wir noch nicht erlebt, eine vollkommen neue Situation, eine neue Erfahrung, wie mächtig die Natur sein kann. Falk, als Kajakfahrer, weiß um die Macht der Elemente, besonders auf dem Meer. Aber auch in den Bergen können sich Brecher auftürmen.
Wenn man aus dem Schlafsack griff, um das Gestänge und Zeltplane zu richten, erhielt man innerhalb von drei Sekunden Erfrierungsschmerzen. Es lagen bereits 30 Zentimeter Schnee ums Zelt. Der Wind peitschte so aggressiv, daß er einem mehr als nur Respekt einflößte.

 

Um halb elf Uhr Nachts gab es ein leises Knacken. Das Gestänge war gebrochen und das Zelt sank auf uns herab. Wir reagierten mit Lachen und machten ein Selbstportrait mit der Plane auf dem Kopf – es gibt Situationen, in denen man die Absurdität erst einmal mit Humor nehmen muß. Natürlich waren wir in akuter Lebensgefahr: die Plane war zerrissen und hätte es Eisregen gegeben, wir wären innerhalb von wenigen Minuten erfroren. verließen wir die Schlafsäcke, schaufelten die Rucksäcke unterm Schnee frei und versuchten, das Gestänge zu reparieren. Alles mit bloßen Händen, in langer Unterwäsche – die Schmerzen waren beispiellos.Wir schafften es. Auch als das Gestänge ein zweites Mal brach. Wir hielten die Nacht lang abwechselnd Wache und lehnten uns gegen die Zeltwand, um die Kraft des Windes aufzuhalten. Um sechs Uhr morgens stand der Berghirte vor dem Zelt, der uns tags zuvor schon freundlich mit Tee versorgt hatte, und holte uns in sein bescheidenes Heim. Wir bekamen Fladenbrot, ein Feuer zum Wärmen und konnten so das Vorhaben, im Schneesturm die Berge zu verlassen, angehen.

 

Ohne Zelt waren die Wanderpläne dahin. Also war unser Auto das neue Ziel, eine Autoreise durch Marokko der neue Plan. Am 15.04.2012 erreichten wir den Parkplatz, konnten keinerlei Schaden am Fahrzeug entdecken und dachten nun an eine erholsamere Reise. Dies war ein ungeheurer Irrglaube. Mit dem Auto ist man stets näher an den Menschen, den Städten, der Zivilisation. Hier streifte Marokko sein bisher erworbenes, positives Bild ab und wurde ein nervenzehrendes Ungeheuer.

Die Bewohner der Berge sind herzliche, gastfreundliche Menschen, denen wir zugeneigt waren. Aber natürlich konnten wir es nicht gutheißen, wie die Tiere behandelt wurden. Um die Esel und Pferde, Ziegen und Kühe nicht weglaufen zu lassen, werden ihnen die Füße mit Stricken zusammengebunden. Narben zeugen von der Grausamkeit dieser Handhabe. Einen Esel mit kleinen Hüpfern am felsigen Berghang vorwärtskommen zu sehen ist schlimm. Auch ihrHunde auszubilden,verstehen die Hirten nicht. Sie sind komplett unbeteiligt am Geschehen und die Hirten versuchen stattdessen, durch Schreie und Steinwürfe die Schafe und Ziegen zu lenken. Es ist traurig, daß die Menschen, so nah an der Natur, keinerlei Empathie für sie entwickelten. Auch der Müll, an fast jeder Hütte gelegen, zeugt davon. Kein Sinn für das Schöne, von Umweltgedanken gar nicht zu reden.

 

Trotzdem sind es liebe Menschen, die Berber der Berge. Auch außerhalb der Wildnis trafen wir immer wieder freundliche Menschen, aber leider überwog ersterer Eindruck um Längen. Nun sahen wir die andere Seite, bei der fast jedes Lächeln falsch ist,nur auf den Profit abzielend; wo Steine geworfen wurden; wo man permanent belagert wurde, sei es, um einem etwas zu verkaufen, oder um einem die eigene Gesellschaft aufzuzwingen. Der Marokkaner hat keinerlei Sinn für Privatsphäre und setzt sich, während man seine Morgenwäsche vollzieht, Essen macht, oder das Bett vorbereitet, einfach daneben und starrt einen an. Zwei Stunden begafft werden ist keine Seltenheit. Vermittelt man dann seinen Wunsch nach Einsamkeit, wird dies zumeist nicht verstanden. Ebenso wie beim suizidalen Autofahr
en fehlt auch hier das vorausschauende, empathische Denken, das wir gerade in einem arabischen Land, in welchem Höflichkeit groß geschrieben wird, erwartet hatten. Doch selbst in einer seriösen Bank wird sich einfach neben einen gestellt und es werden zu dritt am Schalter eigentlich diskrete Dinge erledigt. Cathrin, als große blonde Frau, hatte es nicht leicht und wurde mehrfach täglich, manchmal im Minutentakt angequatscht, angehupt, -gepfiffen oder gar beleidigt. Falk hatte es nicht weniger leicht und musste oft aus dem Auto stürmen und die Flegel zur Rede stellen. Eine Lektion sollte bei solch respektlosem Verhalten wenigstens erteilt werden und nicht selten wuchs daraus eine handgreifliche Situation. Man könnte solche Frechheiten einfach hinnehmen, man kann aber auch einfach mal demonstrieren, daß nicht jeder Europäer solch Verhalten stillschweigend akzeptiert. Letztendlich fördert ein Nichtreagieren ein Fortführen des Fehlverhaltens und die Schädigung der nächsten Touristen. Wir hatten unsere Messer stets griffbereit und einen Holzknüppel an der Vordertür. Von Steinewerfern, Messer ziehenden Bettlern und frechen Machos schien es von Region zu Region mehr oder weniger zu wimmeln, und wir waren nicht gewillt, so etwas unkommentiert durchgehen zu lassen.

Während der Mittlere Atlas und der Süden, die Wüstenregionen, noch angenehm waren, waren die Küstenregion, die Region um Marrakesch und besonders das Rifgebirge schlimm. Das Rifgebirge war gar eine Katastrophe und die Situationen wären mehrfach fast eskaliert. Wir durchfuhren das nördliche Marokko am Ende unserer Reise nur schnell, da unsere Nerven langsam blank lagen und unsere Nachsicht und Milde mit den Hasch verkaufenden und Frauen beleidigenden Machos am Ende war.

 

Der eigentliche Plan hatte nach dem Zeltverlust also darin bestanden, mit dem Auto durch das Land zu fahren und Berge zu besteigen. Dazu verließen wir den Mittleren Atlas, aber nicht, ohne uns erst einmal gehörig festzufahren. Wir übernachteten im Auto auf einer abgelegenen Bergpiste. Nachts regnete es so stark, daß tags darauf eine matschige Katastrophe vor uns lag. Unser Qashqai hatte sich die ganze Reise über sehr wacker geschlagen, aber da hätte sich auch ein Land Rover Defender die Zähne ausgebissen. Ein ganzes Dorf herzlicher Berber half uns aus Leibeskräften, den Wagen herauszuziehen. Doch vergebens. Wir wühlten zwei Stunden im eiskalten Matsch, schaufelten Steine frei, legten die Brocken unter die Reifen, schoben wieder mit fünf Mann an… doch vergebens. Die Frauen des Dorfes machten ein kleines Feuer, damit wir uns zwischendurch die Finger wärmen konnten. Teilweise war der Schlamm mit Schnee bedeckt. Ers
t als nach zwei Stunden aus einem nicht allzu weit entfernten Nachbardorf ein Traktor herbeigerufen wurde, konnte man uns befreien. Aber selbst dieser hatte Probleme und fuhr sich fast selbst fest. Vielen Dank an das nette Dorf. Diese lieben Menschen, die uns dann noch gastfreundlich zum Essen einluden, halten für uns Marokkos Ehre aufrecht. Nicht die auf modern getrimmten Städte und neuen Hotels, wie sie in Tanger prangen. Nicht die moderne junge Spaßgesellschaft mit ihren aufgesetzten Vorstellungen einer westlichen Welt, wie sie um Casablanca schnippisch flaniert, nicht die ganzen unglücklichen Bilder des Königs an jeder freien Hausfassade, nicht das überall feilgebotene Haschisch, nicht die Klischeemärkte pseudomarokkanischer Kultur, nein, die uneigennützige, freundliche Art der bescheiden lebenden Hirten und Bauern war die positivste und schönste Erfahrung auf der „menschlichen Seite Marokkos“. Uns interessierte die Kultur kein bißchen, nicht die Medinas, nicht die Moscheen, nicht die Paläste. Die wertvollste Kultur des Landes findet für uns um das karge Feuer in einem Lehmhaus statt, wo man auf Fellen sitzt, Tee trinkt und frisches Fladenbrot in selbstgepreßtes Öl tunkt.

Die Bergbesteigungstour, zu der wir uns nach Verlust des Zeltes entschlossen hatten, fand am Toubkal, dem höchsten Berg Nordafrikas, sein jähes Ende. Einige Tage zuvor hatten wir den Gipfelgrat des Tabgourt auf 3000 Metern erklommen, um bei der Rückkehr zu unserem Auto dieses aufgebrochen und verwüstet vorzufinden. Ein Drama sondergleichen. Die Scheibe war eingeworfen, das gesamte Auto verbeult, verschrammt und unser Logo auf der Tür zerkratzt, der Inhalt all unserer Reise- und Kulturtaschen im ganzen Innenraum verteilt. Und das auf einer einsamen Bergpiste im Nirgendwo. Die einzigen, die von unserem Aufenthalt dort gewußt hatten, waren einige Jungs aus einem nahegelegenen Dorf gewesen
Aber solch kleine, freundliche Jungs, zu denen auch wir ausnahmslos nett gewesen waren, mit ihnen gespielt und ihnen Süßigkeiten gegeben haben, konnten doch nicht die skrupellosen Täter sein!?

 

In Nacht und Nebel, die Sonne war inzwischen untergegangen, fuhren wir die anderthalbstündige und besorgniserregend schmale Schotterserpentine runter zum nächsten großen Ort, um dort am nächsten Morgen das Verbrechen anzuzeigen. Die Gendarmerie-Brigade um den stolzen Attiom Hassane begleitete uns daraufhin und sorgte in einer zehnstündigen Aktion mit viel Aufwand dafür, daß die Täter gefaßt und unsere Sachen wiederbeschafft wurden. Alles in allem kam es zu verwunderlichen Ergebnissen und das Diebesgut wurde aus allen Himmelsrichtungen an uns herangetragen. Das Auto versuchten wir, so gut wie möglich zu flicken, konnten es aber nicht mehr allein stehen lassen. Eine Folie und etwas Stoff halten niemanden von einem weiteren Einbruch ab.

Am touristisch erschlossenen Toubkal gab es nun aber einen bewachten Parkplatz. Da dies an anderen Bergen nicht gegeben ist, war dies unsere letzte Möglichkeit einer Bergbesteigung. Wir hatten abermals Pech. Das Wetter war ungünstig und zwei Tschechen und fünfzehn erfahrene, spanische Bergsteiger kamen uns entgegen und berichteten, daß die nächsten drei Tage Nebel, Schnee und Regen einen Aufstieg unmöglich machen würden. Wir hatten bis dahin gehofft, daß das Wetter aufklart. Um vier Uhr Nachts waren wir gestartet und bis auf 3200 Höhenmeter gestiegen, dann umgekehrt. Es war noch Vormittag als wir abstiegen. Wir waren frustriert und enttäuscht. Den Toubkal hätten wir sehr gern erklommen. Aber dann kam uns das Entsetzen entgegen. Mit solch touristischen Auswüchsen hatten wir nicht gerechnet.Scharen, Massen, Hunderte von Touristen kamen auf uns zu. Sie sahen aus wie im Tschiboshop ausgerüstet, ließen sich von Bergführern und deren geschunden Mulis die Taschen schleppen und waren eine Karikatur unerträglichen Tourismusses. Wir standen, ungewaschen, unrasiert, in dunkelgrün gekleidet, mit Seil und Helm inmitten von herausgeputzten Scheinabenteurern in kurzen Hosen. Immerhin hatten wir uns weiter oben am Berg durch Schneegestöber kämpfen müssen und wurden nun von sommerlich gekleideten Touristen passiert. Ganze Schulklassen wurden den Berg hinaufgeschleppt. Es war die grausame Entweihung eines natürlichen Monuments. Nun waren wir fast froh den Berg nicht bestiegen zu haben. Die Massen an Touristen würden sich tags darauf genauso unverrichteter Dinge ihre Taschen wieder herunter tragen lassen und sich zwischendurch an den Ständen entlang des Weges mit Snickers und Cola versorgen. Jeder echte, also naturinteressierte, Wanderer sollte den Toubkal und am besten die ganze Region westlich des Atlasgebirges um Marrakesch meiden.

 

So neigte sich unsere Reise dem Ende zu. Zwischendurch geschah so unglaublich viel, daß dies den Rahmen eines Berichts sprengen würde. Wir verliefen uns in der Wüste, wir entgingen knapp einem bewaffneten Überfall, für den sich die Polizei in Asilah, südlich von Tanger nicht im geringsten Interessierte, obwohl wir sogar eine Ahnung hatten, wo die Bande sich aufhielt. Wir fuhren uns am Strand fest, was eine ganze Nacht Arbeit nach sich zog. Wir trieben bereits Scherze, daß diese Tour wohl ohne Frage genügend Stoff für ein ganzes Buch erhalten sollte. Auch wenn wir unser eigentliches Erstziel nicht erreichten und selbst das zweite, die Bergbesteigungstour, nicht, so erhielten wir doch umsomehr Erfahrungen, mehr Abenteuer, als mit der Ursprungstour überhaupt möglich gewesen wäre. Wir lernten das Land von allen Seiten kennen, durchquerten es auf 6000 Kilometern, trafen Städter, genau wie die ärmsten Bauern, sprachen mit Polizisten und verloren gegangen Hippies und rundeten so unser sehr buntes Bild des Landes ab. Dieses Bild widerspricht allerdings teils arg dem der Literatur, die wir im Vorwege gelesen hatten. Besonders die R
eiseführer von Erika und Astrid Därr stellen ein bizarr glorifiziertes Bild eines Landes dar, daß viel kritischer gesehen werden sollte. Zitat des Därr-Reiseführers „Marokko, Handbuch für individuelles Entdecken“ zum Thema „Steine werfende Kinder: „freundliches Winken beim Vorbeifahren hilft ebenso: Dann fällt der Stein zu Boden und stattdessen erhebt sich die Hand zum Zurückwinken …“

Es gibt nur wenige Reisebücher über Marokko und in keinem entdeckten wir wirklich kritische Töne. Das Thema der steinewerfenden Kinder ist nur eines von vielen. Aber uns sind niemals so viele freche, teils hinterlistig wirkende Kinder begegnet, wie in Marokko- und Cathrin arbeitet jahrelang im pädagogischen Bereich. Wie Erika Därr in einem Forum schrieb: „Steine werfen ist die Ausnahme“. Es ist nicht die Ausnahme und wir fragen uns, aus welchem Wissen solche Bücher gefüllt werden.

Eines der schönsten Erlebnisse widerfuhr uns am letzten Tag, in einem Gebirge zwischen Tanger und Tanger Med, dem Hafen. Wir waren auf dem Weg zum Fährableger und verfuhren uns mal wieder, da weder unsere Straßenkarte noch die Beschilderungen eine große Hilfe waren, als wir einen Esel die Straße entlanggaloppieren sahen. Eine der Fußfesseln hatte sich wohl gelöst und er nutzte die Gelegenheit, aus seiner Anstellung als bloßes Arbeitsinstrument zu flüchten. Nun schlug ihm ein Stück Kette, am Strick befestigt, in die Füße, was das arme Tier panisch werden ließ. Er galoppierte, die Kette schlug ihm in die Fersen. Er trat aus und lief nur noch schneller. Wir überholten ihn, hielten und blockierten die Straße. Falk stoppte ihn, griff ihm um
den Hals und das Tier beruhigte sich sofort. Cathrin zog ihr Einhandmesser und schnitt die Fessel los. Das Tier wurde von uns getätschelt und beruhigend angesprochen. Wahrscheinlich war es das erste Mal, daß ein Mensch lieb zu ihm sprach, ihn als bloßes Arbeitsgerät sehend, würde kaum ein Marokkaner auf so etwas kommen. Der Esel schaute Cathrin an und flehmte als freundliche Gebärde. Es war eine herzerweichende Szene. Wir hatten zuvor, in den Bergen, schon öfter versucht, Tiere von ihren Fesseln zu schneiden, aber jedes Mal war das Tier fortgehüpft und wir wollten es an den Berghängen nicht hetzen. Nun konnten wir dies doch noch und hoffen, daß der kleine Esel eine verwilderte Herde findet und sein Dasein in Freiheit verbringt – und seien es nur wenige Wochen.

Abenteuer Marokko. Ein Abenteuer war es wahrlich, mehr Strapaze als schön, aber lehrreich und sehr, sehr ereignisvoll. Als nächstes befahren wir wieder Gewässer und hoffen, auf viel, viel weniger Menschen und Zivilisation.

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